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Statement

Patientenorientierte Medizin erfordert Zusammenarbeit und Finanzierung

Steht der Patient im Mittelpunkt des Gesundheitswesens, oder steht er nur im Weg?
Ein patientenorientiertes Gesundheitswesen erfordert die Definition von Gesundheitszielen, die Beschreibung der möglichen Wege zur Erreichung der Gesundheitsziele und eine für die Verwirklichung dieses Weges ausreichende Finanzierung.

Gesundheitsziele müssen von den Betroffenen, also von der Gesellschaft bzw. den Versicherten als Ganzes definiert werden.
Gegenwärtig bedarf es aber erst einmal der Zielbestimmung der Gesundheitspolitik selbst, die aufbauend auf der Gesellschaftsprognose der nächsten 50 Jahre (vor allem der demografischen Prognose) und der Analyse der Morbidität der Gegenwart das Notwendige und Machbare definieren muss. Von dieser Zielstellung können die Zwischenetappen sowohl in der Aufgabe, der Struktur als auch in der Finanzierung und Umsetzung konzipiert werden. Dabei müssen Abweichungen von dieser Prognose ständig beobachtet und die Ziel- und Prozessmarker angepasst werden.

Aus Gesprächen mit Patientenverbänden wissen wir, dass Lebensqualität wichtiger ist und den Vorrang vor Lebensdauer hat. Ebenso wissen wir, dass bei chronischen Krankheiten ein Patientenanliegen ist, mit der Krankheit leben zu lernen, als um jeden Preis gegen die Krankheit zu kämpfen. Alter schließt Gebrechen und Behinderung ein, dieses Leben will bewältigt sein. Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie die wirtschaftlichen Anreize müssen sich an diesem Ziel der Gesellschaft messen. Das ist zur Zeit nicht gegeben.

Über die persönlichen Gesundheitsziele verfügt der Patient selbst, zum Beispiel mit einem Patiententestament oder mit der aktuellen Festlegung beim Arztbesuch im Krankheitsfall. Das schützt ihn vor Überbetreuung, aber es macht auch sein Anliegen deutlich. Vom gesellschaftlichen Konsens abweichende Ziele dürfen die Gesellschaft nicht belasten. Jeder trägt Verantwortung für sich selbst. Dieser Prozess ist zur Zeit politisch unterentwickelt und wird unzureichend angeregt und unterstützt. Besonders die Gesunderhaltung wird ungenügend gewürdigt. Die Reparaturmedizin fördert geradezu die Risikobereitschaft für Gesundheitsschäden.

Das Erreichen des Gesundheitszieles erfordert vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten.

Wesentlichen Anteil hat die Eigenverantwortlichkeit und Selbsthilfe als Basis der Gesunderhaltung und Bewältigung von Krankheit. Selbsthilfe ist konsequent zu fördern. Selbsthilfe ist nicht auf Hilfe gegen Defizite des Gesundheitswesens zu reduzieren, etwa bei Behandlungsfehlern. Selbsthilfe hat eine hohe Kompetenz zur Umsetzung von Bewältigungsstrategien und ist die kostengünstigste Betreuungsform. Niemand kann Kranke emotional besser verstehen und beraten als Kranke.

Die Arbeit der Gesundheitsberufe erfordert Koordination und Kooperation. Deshalb steht dem Patienten der Hausarzt als lebensbegleitender Betreuer und als Koordinator aller Gesundheitsberufe zur Seite. Die spezialisierte ambulante Betreuung, die stationäre Betreuung und die anderen Heilberufe werden entsprechend der Notwendigkeit für das Erreichen des Gesundheitszieles in Anspruch genommen. Die Koordination schränkt die freie Arztwahl nicht ein, sondern sichert die wechselseitige Information und die Abfolge der Maßnahmen entsprechend den medizinischen und sozialen Erfordernissen.

Die Integration der Gesundheitsberufe dient der optimalen Betreuung der Kranken und Behinderten, nicht einer vordergründigen Kostendämpfung. Die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe wird in Leitlinien unter Mitarbeit aller Beteiligten, auch der Patientenvertreter, vereinbart. Leitlinien beschreiben Handlungskorridore sowie eine Rangordnung von Maßnahmen zur Erreichung des jeweiligen Therapieziels, sie lassen aber Spielräume für mögliche Alternativen bei unbegehbarem Hauptweg. Die Ausgrenzung von Alternativen wird der Vielfalt der Patientenprobleme und Patientenbedingungen nicht gerecht. Durch die Einbeziehung der Patientenvertreter sind die Interessen der Versicherten besser gewahrt als durch die Krankenkassen, da letztere mehr unter dem Druck der Nettozahler stehen.

Die Solidargemeinschaft versteht sich auch als Solidargemeinschaft der Versicherten untereinander. Gegenwärtig droht ein Widerspruch zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern, der von der Politik und den Krankenkassen für Wettbewerbszwecke missbraucht wird und sowohl den Versicherten wie auch den Leistungserbringern Schaden zufügt. Das drückt sich zum Beispiel in den Diskussionen um Budgets, um Zuzahlungen und Beitragshöhen aus.

Die Versicherten müssen neben den Rechten des Patienten auch die Pflichten selbst definieren, um einen Missbrauch der Solidargemeinschaft auszuschließen. Dazu gehört unter anderem die Einschränkung der Chipkarte gegenüber unkoordinierter Inanspruchnahme, die die Finanzierung gefährdet. Dazu gehört auch die eigenverantwortliche spezielle Versicherung bei speziellen, vom Versicherten selbst beeinflussbaren Risiken wie zum Beispiel Genussmittelmissbrauch, risikovolle Sportarten und das Risiko im Straßenverkehr.

Erreichen der Gesundheitsziele erfordert die Finanzierung durch die Solidargemeinschaft. Das Kostenerstattungsprinzip führt dabei zur Transparenz und gleichzeitigen Kontrolle der Leistungserbringer zur ordnungsgemäßen Rechnungslegung. Die Kostenerstattung darf andererseits den Versicherten nicht unzumutbar belasten.

Die Solidargemeinschaft muss festlegen, welche Risiken gesondert außerhalb der Solidargemeinschaft der Allgemeinen Krankenversicherung zu versichern sind. Sie muss auch die Anspruchsberechtigung innerhalb der solidarischen Finanzierung und deren Grenzen definieren. Nur innerhalb der medizinischen Indikationsstellung entscheiden die zuständigen Gesundheitsberufe, aber nicht in einem Zwiespalt von Leistungsrecht und Finanzierung.

Jede Störung des Vertrauensverhältnisses und der Kooperation verschlechtert die Finanzgrundlagen des Systems. Die Vertrautheit, die „Droge Arzt” ist wirksame Kostendämpfung. Misstrauen des Patienten etwa in die ausreichende Arzneimittelversorgung, wie sie durch unzureichende Budgets ausgelöst werden, führen zur mehrfachen Inanspruchnahme ohne Nutzen für das Erreichen des Gesundheitszieles, sondern mit Erhöhung des Gesamtaufwandes durch Ausweichbewegungen zwischen den Sektoren. Auch Zweitmeinungen müssen koordiniert sein.

Falsche Anreize bei den Leistungserbringern führen zum Festhalten des Patienten und damit zur Störung des kooperativen Zusammenwirkens. Kooperation muss prinzipiell belohnt werden. Dazu bedarf es der politischen Rahmenregelungen. Qualität ist immer Ergebnis der Qualität des Zusammenwirkens bei der Betreuung, der Aus-, Weiter- und Fortbildung und der Sicherung der Qualität der eigenen Leistungserbringung. So muss auch die Qualitätssicherung miteinander und nicht über den anderen erfolgen.

Gegenwärtig werden die Betreuungsergebnisse durch politisch veranlasste Konflikte zwischen den Beteiligten beeinträchtigt. Eine Änderung ist nicht durch Appelle erreichbar, sondern nur durch einen Grundkonsens. Gesundheitspolitik ist gegen die Gesundheitsberufe ebenso wenig machbar wie gegen die Betroffenen.

Dr. med. Diethard Sturm
Vorsitzender des Sächsischen Berufsverbandes
der Fachärzte für Allgemeinmedizin e.V.

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Letzte Aktualisierung: 14.10.2000 zum Seitenanfang    Druckversion    
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